Pimmelgate und Kältebusaffaire: Hausdurchsuchung wegen Beleidigung?
Ein Tweet bei Twitter, der den Hamburger Innensenator Andy Grote (SPD) beleidigte, ist inzwischen international als ‚Pimmelgate in die Schlagzeilen der Medien geraten.
Die Verhältnismäßigkeit von Durchsuchungsmaßnahmen im #Pimmelgate und in der #Kältebusaffaire
Ingenieure wenden Naturgesetze an. Ob beispielsweise die Konstruktion eines Gebäudes tragfähig ist oder nicht, können sie mathematisch präzise ausrechnen. Rechtsanwälte wenden von Parlamenten gemachte Gesetze an. Dabei ist das Ergebnis nicht so eindeutig vorauszusagen wie in dem Beispiel einer statischen Berechnung, sondern liegt stets in einem etwas breiteren Spielraum. Dies muss auch so sein, denn es geht schließlich immer um Einzelfallgerechtigkeit, die mit roboterhaftem Schematismus unmöglich erreicht werden kann.
Ausschließlich individuelle Lösungen gibt es dennoch nicht, denn es gibt in der Rechtsordnung viele rote Fäden, deren Verlauf jene Grenzen zieht, wo das Recht aufhört und das Unrecht anfängt. Es sind Begriffe wie „Treu und Glauben“, „Billigkeit“ oder „Verhältnismäßigkeit“.
Nichtjuristen nennen sie oft abschätzig „Gummi-Paragrafen“. Diese Bezeichnung wird der Sache nicht gerecht. Genau diese roten Fäden sind es nämlich, die dafür sorgen, dass bei den Bemühungen um Einzelfallgerechtigkeit die Kirche jeweils im Dorf bleibt. In den letzten zehn Jahren sind diese roten Fäden jedoch aufgeweicht und damit die Grenzen zwischen Recht und Unrecht undeutlich geworden. Ob es sich bei unserem Eindruck um verklärte Nostalgie oder um eine bedenkliche Fehlentwicklung handelt, überlassen wir dem Urteil unserer Leserinnen und Leser.
Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit
Der rote Faden, um den es im heutigen Beitrag geht, ist die Verhältnismäßigkeit. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit besagt, dass in die Rechte des Einzelnen nur soweit eingegriffen werden darf, als es unbedingt erforderlich ist, um die Rechtsordnung wiederherzustellen oder übergeordnete Rechte zu sichern.
Für jene Leserinnen und Leser, die plakative Erklärungen vorziehen, könnte die Definition lauten: Auch bei der Rechtsanwendung darf man nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Was damit gemeint ist, sollen die beiden folgenden Fälle verdeutlichen, die zur Zeit sowohl unter Juristen, als auch in den allgemeinen Medien mit gewisser Aufgeregtheit erörtert werden.
Fall 1: #Pimmelgate – oder der rote Faden der Verhältnismäßigkeit
Der Sozialdemokrat Andy Grote ist Rechtsanwalt. Seit 2016 ist er Innensenator der Freien und Hansestadt Hamburg. In diesem politischen Amt ist er dafür verantwortlich, dass alle Hamburger Bürgerinnen und Bürger die geltenden Gesetze und Rechtsverordnungen einhalten. Dazu untersteht dem Innensenator auch die gesamte Polizei, die im Sommer 2020 die Einhaltung strenger Corona-Auflagen zu überwachen hatte: Mindestabstände, Maskenpflicht, Alkoholverbote, Kontaktbeschränkungen.
Anlässlich seiner Bestätigung in diesem verantwortungsbeladenen Amt veranstaltete Herr Grote am 10. Juni 2020 in einer Hamburger Partymeile eine Feier, zu der rund dreißig seiner Parteifreunde zusammenkamen und ihn hochleben ließen. Mindestabstände, Maskenpflicht, Alkoholverbot und Kontaktbeschränkungen waren an diesem unbeschwerten Abend wie von Zauberhand außer Kraft gesetzt.
Nachdem herausgekommen war, dass ausgerechnet der Innensenator in eigenen Angelegenheiten fünf grade sein lässt, gab es zwar viel Kritik, doch Hamburgs Erster Bürgermeister hielt eisern an seinem Parteifreund Grote fest. Dieser wird selbst wahrscheinlich keine Sekunde lang über einen Rücktritt vom Amt des Innensenators nachgedacht haben, obwohl er die Rolle des strengen Wächters über das Gesetz nach seinem eigenen Rechtsbruch unmöglich mehr glaubwürdig ausfüllen kann.
Nach diesem Vorfall vergingen elf Monate. Im Mai 2021 wurde ruchbar, dass nun in einem anderen Hamburger Szeneviertel frohsinnige Partys gefeiert würden, auf denen die Corona-Maßnahmen ähnlich wenig interessierten, wie seinerzeit auf der Party des Herrn Grote. Dieser (nun ganz Innensenator) kommentierte dieses lose Treiben am 30.05.2021 auf Twitter:
„In der #Schanze feiert die Ignoranz! Manch einer kann es wohl nicht abwarten, dass wir alle wieder in den Lockdown müssen … Was für eine dämliche Aktion“
Gleich darauf twitterte es zurück: „Du bist so 1 Pimmel!“
Absender war „Zoo St. Pauli“. Gemeint war (in höflicher Übersetzung): Herr Grote solle sich in Anbetracht seiner eigenen Corona-Party besser an Immanuel Kants kategorischen Imperativ halten: Lass die Maxime deines Handelns auch für andere gültig sein.
Schnell fand die Polizei heraus, dass der Absende-Account einem Menschen namens Marlon P. gehört (so nannte ihn wenigstens die taz am 08.09.2021). Herr P. wurde vorgeladen und räumte freimütig ein, Herrn Grote jenen Tweet mit dem Pimmel geschickt zu haben. Mehr als ein Geständnis des Beschuldigten kann in einem Ermittlungsverfahren für die Staatsanwaltschaft nicht herauskommen. Damit lässt sich sogleich die Anklageschrift verfassen, deren Beweismittelliste vom „Geständnis des Angeklagten“ angeführt wird.
In Hamburg war es aber anders:
Letzten Mittwoch stürmten in aller Früh sechs Polizeibeamte die Wohnung des Marlon P. und zeigten einen Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Hamburg vor. Er enthält die Standardbegründung: „Es ist zu vermuten, dass die Durchsuchung zum Auffinden von Beweismitteln führen wird, insbesondere von Speichermedien, mittels derer die in Rede stehende Nachricht versandt wurde.“ Wenn das Geständnis des Beschuldigten aber bereits vorliegt, ist es anschließend nicht mehr nötig, seine Wohnung nach Beweismitteln zu durchsuchen, um ihn zu überführen.
Fall 2: #Kältebusaffaire
Frau Karina F. (diesen Namen verwendete welt.de in Ihrem Beitrag am 13.05.2021) scheint mit der Migrationspolitik des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Michael Müller, nicht einverstanden zu sein. Eines Tages fand sie ein Foto des von ihr kritisierten Politikers, auf dem dieser mit einem Plakat in der Hand vor einem Bus abgebildet ist. Das Plakat trägt die Aufschrift: „Kältebus rettet Leben!“
Frau F. scheint nicht nur kreative Einfälle zu haben, sondern auch technisch versiert zu sein. Jedenfalls vermochte sie die Aufschrift des auf dem Foto gezeigten Plakats durch folgende Botschaft zu ersetzen: „Alle nach #Berlin!“ Damit wollte sie offenbar ausdrücken, dass Herr Müller nach ihrem Eindruck und zu ihrer Missbilligung alle Migrantinnen und Migranten dieser Welt nach Berlin einlädt. In dieser überarbeiteten Form veröffentlichte sie dieses Foto anschließend auf Facebook. Dies war im April 2019. Ob man dies besonders geist- oder geschmackvoll findet oder nicht, braucht hier nicht erörtert zu werden.
„Wenn der Regierende Bürgermeister rotsieht“ welt.de 13.09.2021
Auf Pressefotos sieht Herr Müller meist so aus, als trüge er eine Zitronenscheibe im Mund, deren Säure ihm Unbehagen bereitet. Den Eindruck einer besonders frohsinnigen Natur vermittelt er jedenfalls nie, eher legt sein Anblick die Einschätzung nahe, dass Humor nicht zu seinen prägenden Wesenszügen gehört. Vielleicht lag es an diesem Defizit, dass sich Herr Müller durch die Fotoveröffentlichung der Frau F. spontan gekränkt fühlte und am 16.04.2019 sogleich einen Strafantrag gegen sie stellte.
Für dieses Ansinnen suchte der sozialdemokratische Landesherr auch nicht wie gewöhnliche Menschen ein Polizeirevier auf, sondern wandte sich direkt an den Leitenden Oberstaatsanwalt Berlins. Die Staatsanwaltschaft nahm die Ermittlungen auf und erwirkte auch in diesem Fall beim Amtsgericht einen Durchsuchungsbeschluss. Wie im Fall des Herrn P. in Hamburg erschienen im Februar 2020 frühmorgens sechs Polizeibeamte und durchwühlten die Wohnung der Frau F. Diese legte anschließend gegen den Durchsuchungsbeschluss Beschwerde ein.
Acht Monate später entschied das Landgericht Berlin, die Durchsuchung sei rechtswidrig gewesen. Es hätte weder von der Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren eingeleitet noch vom Amtsgericht ein Durchsuchungsbeschluss erlassen werden dürfen, denn es hätte bereits am notwendigen Anfangsverdacht für das Vorliegen einer Straftat gefehlt: Das Foto sei eine politische Meinungsäußerung, aber keine Beleidigung und auch keine üble Nachrede gegen Herrn Müller.
Das waren die beiden Fälle. In beiden geht es um Hausdurchsuchungen, nachdem ein maßgeblicher Politiker Strafanzeige erstattet hatte, er sei beleidigt worden.
Stellen Sie sich vor: Es ist früh am Morgen. Sie sind gerade erst aufgestanden. Nur drei Dinge in Ihrer Wohnung verursachen vertraute Geräusche: das Radio, die Kaffeemaschine und Ihre Zahnbürste. Wie aus heiterem Himmel wird in dieser Situation Ihre Wohnungstür eingetreten und sechs Beamte stürmen herein. Einer drückt Ihnen eine Abschrift des Durchsuchungsbeschlusses in die Hand, ein anderer brüllt Ihnen etwas ins Ohr, als wären Sie schwerhörig, und die übrigen vier fangen schon einmal an, Ihre Wohnung in Chaos zu verwandeln, bevor Sie überhaupt Gelegenheit hatten, den Durchsuchungsbeschluss zu lesen, den Sie in Ihrer Verwirrung auch bestimmt nicht gleich im ersten Anlauf verstehen werden.
Schlimmer noch: Sie sind gar nicht in der Lage, die Situation richtig einzuschätzen. Sie wissen nicht, was Sie selbst dürfen, und noch weniger klar ist Ihnen, was diese Beamten dürfen. So erleben die meisten Menschen eine Hausdurchsuchung. Viele wollen anschließend nicht mehr in der durchsuchten Wohnung leben, denn es bleibt das ungute Gefühl zurück, dass ihre Wohnung nicht mehr jenen ureigenen Schutz- und Rückzugsbereich bieten kann, für den man sie bis dahin gehalten hat. Die Unverletzlichkeit der Wohnung ist ein Grundrecht. In dieses Grundrecht darf vom Staat nur eingegriffen werden, wenn es gar nicht mehr anders geht. Darin drückt sich hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus.
Im Hamburger Fall hatte die Staatsanwaltschaft bereits das Geständnis des Beschuldigten. Das reicht völlig aus, um ihn anklagen zu können. Mehr Beweise müssen nicht beigebracht werden. Warum deshalb drei Wochen nach dem Geständnis noch eine Durchsuchung durchgeführt wurde, kann sachlich nicht begründet werden.
Im Berliner Fall war klar, dass es Frau F. nicht darum ging, Herrn Müller in seiner persönlichen Ehre herabzusetzen. Das ursprüngliche Foto wurde nicht so verändert, dass es anschließend Herrn Müller etwa entstellt oder ins Lächerliche gezogen dargestellt hätte. Herr Müller sah auf diesem Foto weiterhin so aus, wie er eben aussieht. Verändert wurde lediglich die Aufschrift auf dem gleichfalls abgelichteten Plakat. Deshalb ging es bei der vorgenommenen Veränderung lediglich um Kritik an der von Herrn Müller betriebenen Politik, aber nicht einmal um dessen Person. Dies ist vom Grundrecht der freien Meinungsäußerung gedeckt. Eine andere rechtliche Bewertung ist – man darf sagen – an den Haaren herbeigezogen. Dies hätte dem Leitenden Oberstaatsanwalt ohne weiteres klar sein müssen, und den übrigen Beamten seiner Behörde sowie dem Ermittlungsrichter ebenfalls. Wenn es so war, wie es in der Presse berichtet wird, dass der Regierende Bürgermeister die Strafanzeige persönlich beim Leitenden Oberstaatsanwalt erstattet hat, hätte dieser nicht Ermittlungen aufnehmen dürfen, sondern hätte seinen Landesherrn überzeugen müssen, dass aus dieser Strafanzeige keine Strafverfolgung werden kann.
Beide Fälle lassen für sich genommen den Eindruck entstehen, die jeweilige Durchsuchungsaktion hätte nur stattgefunden, um einem führenden Politiker die Loyalität „seiner“ Beamten zu beweisen und gleichzeitig missliebigen Bürgern vorzuführen, was der Unterschied zwischen Macht und Ohnmacht ist. Dieser Eindruck kann falsch sein. Wenn er aber richtig wäre…
Auf standhafte Gemüter mag es lustig wirken, dass gerade in dem vom SPD-Kanzlerkandidaten Scholz geführten Bundesfinanzministerium kurz vor dem Wahltag noch eine Durchsuchung stattfand. Die Ermittlungen werden von der Staatsanwaltschaft Osnabrück geführt, sicher rein zufällig von einer Behörde aus dem von seinem CDU-Konkurrenten Laschet regierten Bundesland Nordrhein-Westfalen.
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