Bundesverfassungsgericht lehnt Eilanträge gegen Ausgangssperre ab

Gestern, am 5. Mai 2021, kurz vor Mitternacht (23 Uhr 38), meldete die Online-Ausgabe von DER SPIEGEL, das Bundesverfassungsgericht lehnt Eilanträge gegen die Ausgangssperre ab (auszugsweise zitiert):

„Die Ausgangsbeschränkung diene dem legitimen Zweck, „Leben und Gesundheit zu schützen, sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems“ sicherzustellen. Die Erwartung, dass private Zusammenkünfte durch die Ausgangsbeschränkung reduziert werden, sei auch „nicht offensichtlich unplausibel“. Es sei zwar „fachwissenschaftlich umstritten“, ob die nächtliche Ausgangsbeschränkung geeignet ist, Infektionen zu reduzieren. Der Gesetzgeber habe dies aber nicht „ins Blaue hinein geregelt“, sondern könne sich auf wissenschaftliche Untersuchungen stützen. Andere, ebenso effektive Mittel lägen „nicht offensichtlich auf der Hand“. …  In der sogenannten Folgenabwägung entscheiden die Richter, was schlimmer ist: Wenn die Eilentscheidung für die Kläger ausgeht, die spätere Hauptsache-Entscheidung aber dagegen? Oder andersherum? Diese Abwägung, so der Senat, „fällt zulasten der Beschwerdeführenden aus“. Die nächtliche Ausgangsbeschränkung greife zwar „tief in die Lebensverhältnisse ein“, die „nicht ausübbare Freiheitsbetätigung“ könne auch nicht „nachgeholt“ werden, und die Maßnahmen führten zu „verstärkten physischen und psychischen Belastungen“. Aber immerhin seien die Maßnahmen nach der derzeitigen Rechtslage „bis längstens zum 30. Juni 2021 begrenzt“.

Das Bundesverfassungsgericht lehnt Eilanträge gegen Ausgangssperre ab

Dies ist zwar noch nicht die endgültige Entscheidung, doch lässt es immerhin eine Tendenz erkennen. In der Sache selbst wird das Bundesverfassungsgericht absehbar erst entscheiden, wenn alles vorbei ist, jedenfalls nicht vor dem am Ende des § 28b IfSG genannten 30. Juni 2021. Nützen wird den Klägern demnach auch eine positive Endentscheidung nichts mehr. Sie stehen nun allesamt belämmert da, allen voran die FDP, die sich sehr siegessicher gezeigt hatte.

Corona und Grundgesetz: Das Ende der juristischen Fahnenstange

In der Tat hatten die Kläger gute Gründe auf ihrer Seite. Dies fand auch DER SPIEGEL, und selbst der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hatte es in einem Gutachten vom 15. April 2021 offenbar für „zweifelhaft“ gehalten, „ob die geplante nächtlichen Ausgangsbeschränkungen einer abschließenden verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten.“

Dass zehn „eingriffsintensive Maßnahmen“ von einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern abhingen, werfe gewichtige Fragen im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit auf, hieß es dort, wie Legal Tribune Online am 16. April 2021 berichtete. Dennoch kam es anders.

Verfassungsbeschwerde gegen den Corona-Aufbau-Fonds der Europäischen Union

Einen ähnlich unglücklichen Start hatte bereits die Verfassungsbeschwerde gegen den Corona-Aufbau-Fonds der Europäischen Union genommen, der einen ersten Schritt zur Vergemeinschaftung von Schulden zwischen den Mitgliedsstaaten bedeutet. Trotz eines zunächst erlassenen Hängebeschlusses, der die Ausfertigung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten aufhalten sollte, wurde auch der hierzu gestellte Eilantrag am 21. April 2021 schließlich abgelehnt.

Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts vom Politikbetrieb wird unterschätzt

Beides überraschte, obwohl es vorauszusehen war. Die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts vom Politikbetrieb wird nämlich zunehmend überschätzt. Gewagt wird im Folgenden ein Erklärungsversuch. Artikel 94 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) lautet:

„Das Bundesverfassungsgericht besteht aus Bundesrichtern und anderen Mitgliedern. Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichtes werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt. Sie dürfen weder dem Bundestage, dem Bundesrate, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Landes angehören.“

Es sind also keine Richter oder rechtswissenschaftliche Hochschullehrer, die sich ausschließlich durch langjährige ausgezeichnete Arbeit in diesen Berufen und fundierte Kenntnisse auf dem Gebiet des Staatsrechts und Verfassungsrechts für diese Dienststellungen empfohlen haben, sondern von Abgeordneten gewählte Amtsträger.

Die Väter des Grundgesetzes sahen sich hier in einem Dilemma: Die Alternative wäre gewesen, die Ernennung dem Bundesministerium der Justiz zu überlassen. Dies wäre darauf hinausgelaufen, dass der jeweilige Minister seine ihm und seiner Partei genehmsten Personen hätte ernennen dürfen. Deshalb entschieden sie sich für die Wahl durch die Judikative. Besser ist dies nicht, denn das Bundesverfassungsgericht soll schließlich unvoreingenommen prüfen, ob die Arbeit der Legislative grundgesetzkonform ist oder nicht, und da wirkt es auf den ersten Blick befremdlich, dass ausgerechnet die Legislative ihre Überwacher selbst wählen darf. Es ist aber so.

Präsident Bundesverfassungsgericht gilt als Vertreter von Wirtschaft und Politik

Dies zeigt sich am deutlichsten an der Person des zufällig Anfang März 2020 in das Amt des Präsidenten gekommenen Prof. Dr. Stephan Harbarth, der zugleich dem 1. Senat vorsitzt, dem die Geschäftsverteilung des Gerichts die Verfassungsbeschwerden wegen Grundrechtseingriffen übertragen hat. Er gilt als Vertreter von Wirtschaft und Politik, auf dem Gebiet des Verfassungsrechts scheint er dagegen wenig profiliert zu sein.

Prof. Dr. Stephan Harbarth wurde 1998 in Heidelberg promoviert (Thema: Anlegerschutz in öffentlichen Unternehmen) und legte 1999 in Berlin die Zweite juristische Staatsprüfung ab. Harbarths Doktorvater war der auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts hoch angesehene Hochschullehrer Peter Hommelhoff. Zusammen mit diesem gibt Harbarth die Fachzeitschriften Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht und European Company and Financial Law Review heraus.

1999/2000 studierte er an der Yale Law School und erwarb dort den akademischen Grad eines Master of Law. Anschließend trat er in die Wirtschaftskanzlei Schilling, Zutt & Anschütz ein, die gleich darauf von der internationalen Anwaltssozietät Shearman & Sterling LLP übernommen wurde. 2006 wurde er dort Partner. Im Mai 2008 trennte sich diese Kanzlei wieder von Shearman & Sterling und gründete sich als SZA Schilling, Zutt & Anschütz Rechtsanwalts AG neu. Harbarth wurde Vorstandsmitglied.

Präsident Bundesverfassungsgericht – 2016 bis 2018 stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU

2009 wurde er Bundestagsabgeordneter der CDU. Als er deswegen sein Einkommen aus der Anwaltstätigkeit offenlegen musste (bei Schilling, Zutt & Anschütz blieb er bis 2018), lag es bei über 250.000 Euro jährlich. Ein solches Einkommen ist für einen Partner einer bedeutenden Wirtschaftskanzlei nicht unüblich. Im VW-Dieselskandal geriet er in einen Interessenkonflikt, weil seine Kanzlei den VW-Konzern vertrat. Offengelegt hatte Harbarth dies nicht, was die Opposition empörte. Als damaliger Bundestagspräsident stand ihm sein Parteifreund Norbert Lammert bei, indem er die Auffassung vertrat, es gebe „nach geltendem Recht keine zwingenden Gründe für einen Ausschluss von Stimmrechten eines Abgeordneten bei Entscheidungen des Bundestages, die diesen selbst begünstigen können“. 2016 bis 2018, also unmittelbar vor seiner Ernennung zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, war Harbarth stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU.

Prof. Dr. Harbarth war an der Universität Heidelberg bester Absolvent seines Examensjahrgangs. Seine Dissertation galt dort gleichfalls als beste Arbeit des Jahres, und dieselbe Universität ernannte ihn 2018 zum Honorarprofessor, weil er dort seit 2004 einen Lehrauftrag hatte. Von der Ausbildung her ist er zweifellos ein exzellenter Jurist. Mit dem Staatsrecht und Verfassungsrecht wird er jedoch nach seinem Ersten Staatsexamen 1996 kaum mehr in Berührung gekommen sein, und das Wirtschaftsrecht, auf dem er als Rechtsanwalt tätig war, ist davon inhaltlich und in der Denkungsart so weit entfernt, dass er auf dem Gebiet des Verfassungsrechts zwar über einst geprüfte, jedoch in den letzten 25 Jahren verblasste Grundkenntnisse verfügen dürfte.

Bedenken vor Ernennung zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts

In den letzten neun Jahren vor seiner Ernennung zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts war er Berufspolitiker der Bundes-CDU. Der Politikbetrieb wird ihn geprägt haben. Ob er in Anbetracht dieses Lebenslaufs über die über die nötige Distanz verfügt, unabhängig und objektiv die Verfassungskonformität der Arbeits- und Abstimmungsergebnisse seiner Parteifreunde und Fraktionskollegen zu beurteilen, ist zweifelhaft. Diese Bedenken bestanden von Anfang an, und es gibt etliche Juristen, die der Auffassung sind, Prof. Dr. Harbarth sei von der Bundeskanzlerin persönlich ausersehen, um ihre Entscheidungen als grundgesetzkonform durchzuwinken.

Zu Wort kamen einige von ihnen in dem am 5. März 2020 im Handelsblatt erschienenen Artikel von Jan Keuchel und Volker Votsmeier, Stephan Harbarth: Verfassungsrichter mit umstrittener Vergangenheit, der noch in der Online-Ausgabe nachgelesen werden kann.

Die Lebensdaten Prof. Dr. Harbarths sind hier teils von Wikipedia übernommen, teils von seiner auf der offiziellen Internetseite des Bundesverfassungsgerichts veröffentlichten Vita. Dort können auch die Lebensläufe der übrigen fünfzehn Richterinnen und Richter beider Senate nachgelesen werden.

An deren juristischer Exzellenz darf durchweg kein Zweifel bestehen, an der unvoreingenommenen Distanz zum Politikbetrieb bei einigen aufgrund ihrer Lebensläufe und ihrer thematisch-fachlichen Wirkungskreise schon. So war beispielsweise die seit 2011 ebenfalls zum 1. Senat gehörende Richterin Prof. Dr. Susanne Baer, LL.M. von 2003 bis 2010 Direktorin des GenderKompetenzZentrums, welches sich auf seiner Webseite folgendermaßen beschreibt:

„Das GenderKompetenzZentrum ist eine Einrichtung des gemeinnützigen Vereins Gender/Queer e.V. Die Arbeit des GenderKomptenzZentrums wird getragen durch ein Netzwerk freiberuflich arbeitender Fachpersonen mit verschiedenen Expertisen und Tätigkeitsschwerpunkten. … Seit August 2010 arbeitet das GenderKompetenzZentrum in Selbstständigkeit. Seit 2011 ist es unter dem Dach des gemeinnützigen Vereins Gender/Queer e.V. aktiv. Das Vorläuferprojekt des heutigen GenderKompetenzZentrums war von 2003 bis 2010 als Drittmittelprojekt am Lehrstuhl von Prof. Dr. Susanne Baer an der Humboldt Universität zu Berlin angesiedelt. In enger Zusammenarbeit mit dem Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (ZtG) wurden Forschung, Beratung und Weiterbildung zu Gender Mainstreaming betrieben.“

Direktorin einer solchen Einrichtung zu sein ist ehrenwert, erfordert jedoch eine bestimmte persönliche Grundhaltung, die von der Politik der Bundeskanzlerin als modern gefördert wurde und sich (auch deswegen wie in der Sache selbst) auf ihre Entscheidungen als Richterin auswirken kann.

Fazit – Bundesverfassungsgericht lehnt Eilanträge gegen Ausgangssperre ab

Kurz gesagt: Völlig abgehoben und distanziert ist der zur Entscheidung über Verfassungsbeschwerden berufene 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den politischen Präferenzen der Bundeskanzlerin und dem Berliner Politikbetrieb nicht. Über die Frage der Konformität der Corona-Maßnahmen mit den Grundrechten ist die deutsche Gesellschaft gespalten. Das Lager der Kritiker ist gestern absehbar am Ende der juristischen Fahnenstange angekommen. Damit hat das Bundesverfassungsgericht voreilig die Möglichkeit ausgeschlagen, eine gesellschaftliche Aussöhnung einzuleiten, denn gerade bei den nächtlichen Ausgangssperren, um die es ging, kann man trefflich anderer Meinung sein, und es ist lediglich eine einzige, wenngleich markante Maßnahme im ganzen Katalog.

Es ist nicht zu erwarten, dass die Kritiker der Corona-Maßnahmen ihren Standpunkt einsichtig aufgeben. Dies ist vielleicht auch nicht angezeigt. Seit gestern stellt sich aber die Frage, auf welche Weise sie ihren Standpunkt überhaupt noch verfechten können, wenn sie mit der Hilfe eines Gerichts nicht mehr rechnen können. Der Versuch einer Antwort ist ebenso schwer wie unerfreulich. Womöglich führt die gestrige Entscheidung zu einer Situation, die das Vorstellungsvermögen so gut wie aller in Deutschland lebenden Menschen übersteigt.

Titelbild: Karlsruhe, Baden-Wurttemberg, Germany – May 18, 2018: Sign at the entrance to the Supreme Constitutional Court of The Federal Republic of Germany – located in Karlsruhe, Germany

Quelle: nmann77-stock.adobe.com

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