„Gegen rechts!“

Demonstrationen sind eigentlich ein Instrument der außerparlamentarischen Opposition, um der Regierung vorzuführen, dass ihre Politik einem Teil der Bevölkerung missfällt.  Insofern geschieht derzeit etwas Ungewöhnliches: Die Regierung, angeführt vom Bundeskanzler und der Außenministerin, demonstriert gegen die Opposition1.

Sogar kirchliche Würdenträger meinen, auf die Straße gehen zu müssen. Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße begründete dies: „Ich bin bewusst dabei, weil ich mich als Staatsbürger dafür einsetze, dass unsere freiheitliche Grundordnung in Deutschland weiter stabiles Fundament unseres Zusammenlebens ist“.2 Darin klingt an, worum es den Demonstranten geht: Ihre Mission ist nichts Geringeres als die Rettung der Demokratie. Das klingt ebenso ehrenwert wie die Absicht der Regierung, ein „Demokratieförderungsgesetz“ zu beschließen, auch wenn die Gesetzesvorlage einigen Demokraten ziemlich undemokratisch vorkommt.3

Die Feinde der Demokratie

Der Leiter des Bundesamts für Verfassungsschutz, Herr Thomas Haldenwang, geht sogar weiter. Er will sogar jeden überwachen lassen, der sich nur im Geringsten verdächtig macht, mit der Regierung, pardon: mit der Demokratie nicht übereinzustimmen.4 Die amtierende Regierung ist nämlich nach dieser, sagen wir, modernen Auffassung die Demokratie schlechthin, und ihre Politik ist es auch. Wer sie kritisiert, kann nach dieser Logik nur rechtsradikal sein und wird damit flugs als Feind der Demokratie ausgemacht.

Natürlich sind die Anhänger der CDU/CSU, die derzeit auf 29 Prozent kommen und zu denen auch Herr Haldenwang zählt, über jeden Zweifel an ihrer demokratischen Gesinnung erhaben: Schließlich würden CDU und CSU dieselbe Politik machen wie die derzeitige Regierung, und diese wiederum will nichts anderes als die CDU unter Angela Merkel. Der kritische Rest der Opposition verteilt sich bundesweit auf die AfD (19 Prozent), das Bündnis Sahra Wagenknecht (7 Prozent), die Freien Wähler (1 Prozent) und vielleicht die Hälfte der „Sonstigen“ (6 Prozent), die niemals eine Chance haben, den Bundestag außerhalb einer Führung von innen zu sehen.5

In manchen Bundesländern, etwa Sachsen, stehen sogar nur noch 13 Prozent auf der Seite der Bundesregierung, während der kritische Rest dort auf stattliche 50 Prozent kommt, darunter 34 Prozent AfD, 11 Prozent Bündnis Sahra Wagenknecht, 3 Prozent Freie Wähler und ebenfalls vielleicht die Hälfte der 4 Prozent „Sonstigen“.6

Was ist eigentlich Demokratie?

Es ist schwer vorstellbar, dass, je nachdem, wo und wie man zählt, ein Viertel bis die Hälfte aller Staatsbürger Feinde der Demokratie sind. Feinde der Demokratie sind nämlich keine klugen Menschen, denn nur die Demokratie ermöglicht Mitspracherechte und politische Teilhabe. Wer die Demokratie ablehnt, lehnt auch jede Kontrolle über den Staat ab und liefert sich von vornherein staatlicher Willkür aus.

In diesem Fall macht es vom Ergebnis her keinen Unterschied, ob man wegen einer vorlauten Äußerung auf der Galeere, in der Bastille oder im Gulag landet. Nur die Demokratie kann solche Verhältnisse verhindern, und deshalb muss jeder vernünftige Mensch daran interessiert sein, in einer demokratischen Gesellschaft zu leben, auch wenn freilich auch da hin und wieder etwas daneben geht: Die Demokratie ist dennoch die einzige humane Gesellschaftsform.

Weil diese Erkenntnis – gerade in Deutschland – auf historischer Erfahrung beruht und jedem einleuchtet, kann man kaum annehmen, dass ein Viertel oder die Hälfte der deutschen Wahlberechtigten so wahnsinnig sind, die Demokratie an sich in Frage zu stellen. Vielleicht liegt aber ein tiefgreifendes Missverständnis vor: Während Frau Faeser und Herr Haldenwang den derzeitigen Zustand des Staates für Demokratie halten und sich deshalb berufen fühlen, ihn zu verteidigen, ist dieser Zustand in den Augen anderer eher keine Demokratie, sondern eine sorgfältig umzäunte Spielwiese für Politiker, die auf ihr alles ausprobieren können, was ihnen in den Sinn kommt.

Das in Artikel 20 des Grundgesetzes erwähnte Volk muss währenddessen vor dem Zaun bleiben und zugleich für die Kosten des fröhlichen Spiels auf dem Rasen aufkommen, egal, ob es dieses Treiben toll findet oder nicht.

Ist Deutschland eine Demokratie?

Diese Überlegung führt zu der staatsphilosophischen Frage, ob Deutschland wirklich eine Demokratie ist – oder vielleicht entgegen allen Beteuerungen doch nicht. Geht man ihr ernsthaft nach, stößt man, ob man will oder nicht, auf folgenden erstaunlichen Text, und die Leserschaft darf beim Lesen nebenbei rätseln, wer ihn geschrieben hat und – vor allem – wann er geschrieben wurde (die Auflösung des Rätsels findet sich im Anschluss):

Auf die Frage, ob unser Staat eine Demokratie sei, pflegt die Antwort selbstverständlich zu sein: Ja, eine parlamentarische Demokratie. Das Grundgesetz bezeugt es: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ (Artikel 20) Wie aber sieht das in der Realität aus? Die Verfasser des Grundgesetzes scheinen vor dem Volke Furcht gehabt zu haben. Denn dieses Gesetz schränkt die Wirksamkeit des Volkes auf ein Minimum ein. Alle vier Jahre wählt es den Bundestag. Die ihm von den Parteien vorgelegten Listen oder Personen sind schon vorher durch die Parteien gewählt. Der Vorgang dieser verborgenen Vorwahl, die die eigentliche Wahl ist, ist verwickelt; die Namen für die Wahlkreislisten und die Landeslisten werden nicht auf gleiche Weise aufgestellt. Immer aber sind es die Parteigremien, nie das Volk, das an diesem entscheidenden Anfang beteiligt wäre. Man muss Parteimitglied sein, um bei dieser Wahl irgendwo mitwirken und um aufgestellt werden zu können. Auch wer Parteimitglied ist, hat als solches eine geringe Wirkung bei den Nominierungen. Entscheidend wählt die Parteienhierarchie und Bürokratie. Bei der Aufstellung der Landeslisten hat das Parteimitglied als solches keine Mitwirkung.

Wer wählen will in dem eigentlichen Sinn, dass er von der Nominierung bis zur Endabstimmung beteiligt ist, muss Parteimitglied werden. Wer es nicht wird, kann sich nicht beklagen, dass er über nichts weiter abstimmen kann als über das, was die Parteien ihm vorsetzen. Er wählt die, die schon gewählt sind, und hat nur noch Einfluss auf die Zahl der von der Partei schon Gewählten, die Parlamentsmitglieder werden. Das Volk hat also nur die sehr beschränkte Wahl zwischen dem, was ihm von den Parteien zur Wahl gestellt wird. Es kann all diese Wahlvorschläge ablehnen. Nach Zufall der Stimmung, politisch gedankenlos, eigentlich ratlos muss es „wählen“.

Die Parteien sind Organe des Volkes. Sie sollen aus dem Volke durch freie Initiative hervorgehen. Der Artikel 21 sagt: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Jedoch: Man kann kaum behaupten, dass in der Bundesrepublik eine politische Willensbildung des Volkes stattfindet. Die Unkenntnis der meisten ist erschreckend groß. Die Parteien informieren und unterrichten das Volk nicht und erziehen es nicht zum Denken. Bei den Wahlen operieren sie nach Prinzipien der Reklametechnik. Ihre Handlungen bedenken die materiellen Interessen von Gruppen, deren Stimmen sie erwerben möchten. (….)

Das Volk kann nicht selber mitregieren. Es regieren die von ihm beauftragten Vertreter, die Parlamentarier, die ihrerseits den Kanzler wählen. Die Frage ist erstens, welche Wirkung überhaupt vom Volke ausgeht. Sie ist ungemein gering. Selbst die Wahlen sind keine eigentlichen Wahlen, sondern Akklamation zur Parteienoligarchie. Zweitens ist die Frage, welche Qualitäten die Parlamentarier als Politiker haben sollten und wirklich haben. Das ist von schicksalhafter Bedeutung. Denn sie stellen die Regierung. Sie fassen die entscheidenden Beschlüsse. Sie arbeiten mit durch die Ausschüsse. Eschenburg hat eine hervorragende Schilderung der Situation des Parlamentariers gegeben. Übermenschliches wird von ihm verlangt. Von überall her kommen an ihn die Forderungen und die Bitten. Er hat die Aufgaben der Propaganda, der Beziehung zu seinen Wählern. Er bedarf der Sachkunde und der Besinnung auf die großen einfachen Linien einer zielbewussten Politik. Aber der Parlamentarier ist keiner Weisung unterworfen. Er ist völlig frei in der Wahl seiner Tätigkeit, in dem, was er jeweils für das Wesentliche hält. Ein herrlicher Beruf für den, der ihm gewachsen ist, ein zerstörender für den, der ihm nicht Genüge leistet! (….)

Die Parteien wandeln ihren Sinn. Die Richtung der Wandlung ist diese: Sie waren gemeint als Organe des Volkes, das durch sie seinen Willen kundtut und umgekehrt wieder von ihnen politisch erzogen wird. Aber sie werden zu Organen des Staates, der nunmehr wieder als Obrigkeitsstaat die Untertanen beherrscht. Die Parteien, die keineswegs der Staat sein sollten, machen sich, entzogen dem Volksleben, selber zum Staat. Ursprünglich vielfach autonome Bildungen aus der unbegrenzten Freiheit des Volkes, werden sie in ihrem Bewusstsein zu den Machtträgern selber. Der Staat, das sind die Parteien. Die Staatsführung liegt in den Händen der Parteienoligarchie. Sie usurpiert den Staat.

Diese Wandlung wird institutionell ohne Absicht befördert. Bei der Begründung der Bundesrepublik ging der Wille auf die Stabilität der Regierung. Die aktive Teilnahme des gefährlichen Volkes sollte möglichst gering werden. Man konnte es nicht ausschalten, weil man behauptete, eine Demokratie zu wollen. Aber man reduzierte seine Wirkung auf die alle vier Jahre stattfindenden Wahlen. Und man behandelte es bei den Wahlen mit den Propagandamitteln als Stimmvieh, das nur über das Maß der Beteiligung der einzelnen Parteien an der Regierung entscheidet (….) Dass die Parteien die einzige politische Macht werden, wandelt ihren Sinn. Ihre durch keine Spannung zu anderer Macht eingeschränkte Stellung verführt. Alleinbesitz der Macht ist verderblich, auch wenn die Form der Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive, Justiz) herrscht. (….)

Die Rolle des Parlaments als maßgebliche Macht wird zweideutig. Einmal maßt es sich etwa Mitwirkung bei Personalfragen an. Dann wieder verzichtet es, wie es scheint, immer mehr auf Kontrolle. Der Kanzler ernennt seine Minister nach dem Grundgesetz aus eigenem freiem Entschluss. In Wirklichkeit nach Beratung mit seiner Partei und der Koalitionspartei, vielleicht sogar so, dass er vor der Kanzlerwahl Verpflichtungen für seine Ministerwahl eingeht. Er könnte nach dem Grundgesetz auch Männer ernennen, die keiner Partei oder gar solche, die der Oppositionspartei angehören, wenn er allein auf Qualifikation sehen würde. Aber das kann er faktisch nicht. Denn die Parteien wollen durch ihre eigenen Leute die Plätze besetzen. Das ist der Lohn für die Parteiarbeit, die Beute des Siegers nach der Wahlschlacht.

Die Kontrolle seitens des Parlaments ist gering. Expertenausschüsse mit Vernehmungsrecht sind nicht wirksam. Schäden, Skandale, sachliche Grundfragen werden nicht auf diesem Wege behandelt, auf dem die Regierung ständig unter Aufsicht stünde oder sich belehren lassen könnte. Wo sie stattfinden, kommen sie eher als Schutzmaßnahmen zur Deckung von Fehlern der Regierung zur Geltung (….) Der Sinn der demokratischen Opposition ist die Lebendigkeit der Politik durch Auseinandersetzung, durch Kontrolle, durch Bereitschaft, mit ihren abweichenden Zielsetzungen selber die Verantwortung der Regierung zu übernehmen und sich zu bewähren. Das verpflichtet sie, so zu denken und sich so zu verhalten, dass der sachliche Wille in Zielsetzung und politischer Gesinnung glaubwürdig ist. Regierung und Opposition, obgleich sie im Kampf um die Macht stehen, sind sich befreundet auf dem gemeinsamen Boden des einen Staatsinteresses.

Wenn die Opposition nicht anerkannt wird als produktive Macht und als für den Staat unentbehrlich, dann ist sie nur negativ beurteilter, staatsfeindlicher, daher eigentlich verwerflicher Gegner. Wenn die Opposition keine eigenen, durchdachten und das Denken der Bevölkerung ergreifenden Zielsetzungen und Wege hat dann erscheint sie der herrschenden Partei ähnlich. Es handelt sich für die besiegten Parteileute nicht mehr um eine politisch gewichtige Sache, sondern nur darum, selber an der Regierung Anteil zu gewinnen, gleichgültig wodurch und wie. Mit der Aufhebung des Spiels der Opposition als unentbehrlichen Faktors der politischen Willensbildung des Staates hört die demokratische Freiheit auf. Denn der politische Kampf im Denken der Bevölkerung hört auf. (….) Dass sich keine produktive Opposition, kein auf dem gleichen Boden kämpfendes Zusammenspiel von Regierung und Opposition entwickelt hat, das hat zum Gegenpol die Tendenz zur Bildung der Großen Koalition oder Allparteien-Regierung. (….) Es gibt, wie immer in parlamentarischen Demokratien, die Ämterpatronage in großem Umfang. Wie weit sie sich heute schon auf unpolitische Berufe bezieht, lässt sich statistisch nicht ermitteln. Es kommt vor, dass ein Krankenhausarzt, um Chef einer städtischen Klinik zu werden, der Partei beitritt, die in dieser Stadt regiert (….).

Wer war dieser Karl Jaspers?

Der Text mag sich aktuell anhören und vielen aus der Seele sprechen, die heute AfD, Bündnis Sahra Wagenknecht, Freie Wähler oder Die Basis wählen. Geschrieben hat ihn aber schon 1966 ein damals sehr prominenter Mensch namens Karl Jaspers in seinem Buch „Wohin treibt die Bundesrepublik Deutschland?“7

Karl Jaspers kam 1883 in Oldenburg zur Welt und starb 1969 in Basel. Er war Professor für Philosophie und Psychologie an der Universität Heidelberg. Wegen seiner jüdischen Ehefrau kam Jaspers nach 1933 in Bedrängnis, wurde 1937 zwangspensioniert, weil er sich nicht scheiden lassen wollte, und durfte ab 1938 nicht mehr veröffentlichen.

Er war ein lebenslanger Freund von Hannah Arendt und neben Martin Heidegger vielleicht der bekannteste deutsche Philosoph des letzten Jahrhunderts.8 In gewisser Weise war er der Vorläufer des heute allgegenwärtigen Starphilosophen Richard David Precht, nur halt noch ohne Turnschuhe.

Karl Jaspers
Quelle: uni-heidelberg.de/uniarchiv/jaspers2019.html

Auslaufmodell Demokratie oder…

Die Demokratie ist sicher kein Auslaufmodell. Politische Teilhabe ist – im Gegenteil – sogar gefragter denn je. Demokratie ist schwierig zu organisieren. In der jungen römischen Republik, einem Stadtstaat, traf man sich auf dem Marsfeld, um das politische Personal zu wählen und die Dinge zu regeln. Diese paar tausend Stimmen ließen sich leicht auszählen. Weil dies bei vielen Millionen Wahlberechtigten in einem großen Flächenstaat aber nicht so einfach ist, wurde die repräsentative Demokratie erfunden.

Mit diesem Modell sind heute nicht mehr alle einverstanden. Dies drückt sich in der Wahlbeteiligung aus. An der ersten Bundestagswahl nahmen nur 78 Prozent teil, weil der Rest nach den zurückliegenden Erfahrungen der neuen Bundesrepublik Misstrauen entgegenbrachte. 1972 waren es aber fast 92 Prozent. Historische Tiefstände erreichte die Wahlbeteiligung 2009 (nur 70,8 Prozent) und 2013 (71,5 Prozent). Danach lag sie nicht viel höher.9 Gern hören Politiker die Erklärung, dass es einem Viertel der Bevölkerung einerlei sei, wer regiert, weil es alle gleich gut könnten.

Die Bertelsmann-Stiftung9 und DER SPIEGEL10 verorten das nichtwählende Viertel unter den „Bildungsfernen“ und „Abgehängten“. Damit verträgt es sich allerdings nicht, dass sich unter den Nichtwählern auch eine Menge prominenter Nichtwähler herumtreibt. So schrieb der Sozialpsychologe Harald Welzer (ebenfalls in DER SPIEGEL), er könne nicht mehr „das kleinere Übel wählen“, weil sich die Parteien nicht nennenswert in ihrer Ignoranz drängender Zukunftsfragen unterschieden.12 Der Chefredakteur des Handelsblatts, Gabor Steingart, hatte aus ähnlichen Gründen sogar schon 2009 beschlossen, nicht mehr wählen zu gehen.13

Sehnsucht nach Demokratie?

Bemerkenswert ist, dass gerade die neuen Parteien, die als so „rechtsradikal“ und „demokratiefeindlich“ eingestuft werden, sodass sogar der Bundeskanzler gegen sie demonstrieren muss, in erster Linie für eine direkte Beteiligung der Wahlberechtigten an politischen Entscheidungen eintreten.14,15 Sie lehnen jene Art von Demokratie ab, die Karl Jaspers schon 1966 kritisiert und sich skeptisch dazu geäußert hatte, ob sie überhaupt verdient, als „Demokratie“ bezeichnet zu werden, siehe oben. Sie treten für eine Art Basisdemokratie ein, ebenso gegen Lobbyismus und ein Berufspolitikerdasein als lebenslange Versorgung.

Dies ist natürlich für alle, die an der parlamentarischen Demokratie (ganz ordentlich) verdienen, eine ungemütliche Perspektive, für Herrn Scholz und Frau Baerbock ebenso wie für die Herren Merz und Haldenwang.

Damit das bloß nicht geschieht, müssen sie sich etwas einfallen lassen. Schon seit einiger Zeit gibt es die Idee der „Brandmauer“ zum Schutz der persönlichen Interessen vor basisdemokratischen Ideen. Zur Zeit sind es Demonstrationen „gegen rechts“, und jene, die artig mitdemonstrieren, haben Karl Jaspers nicht gelesen. Sie haben nicht begriffen, dass es keineswegs um politischen Anstand geht, sondern um die Verteidigung eines Geschäftsmodells, das ihre eigene politische Teilhabe weiterhin klein hält. „Wehrhaft“ wird durch den Eifer des Herrn Haldenwang nicht die Demokratie, sondern (nach Karl Jaspers) eine Art Oligarchie.

Am Scheideweg: Basisdemokratie oder Überwachungsstaat?

Basisdemokratie ist möglich. Dank der Digitalisierung müssten sich die Anhänger der römischen Republik in modernen Zeiten nicht mehr auf dem Marsfeld treffen. In jeder digitalen Zeitung wird man mitten im Artikel aufgefordert, sich an einer digitalen Umfrage zu beteiligen:

„Wird Ihr nächstes Auto ein Elektroauto sein?“

„Soll Deutschland mehr Waffen an die Ukraine liefern?“

„Wird nach Ihrer Meinung genügend gegen Rechtsradikalismus getan?“

Technisch ist es offenbar möglich, dass jeder jederzeit seinen Senf zu allen Fragen der Zeit beisteuern kann, nur dass die Antworten unverbindlich bleiben. Das lässt sich ändern. Wenn man die Einkommensteuererklärung digital abgeben kann, ist es auch möglich, die Wählerstimme digital abzugeben. Computer sind außerdem politisch neutral, sodass es bei der Auszählung der Stimmen nicht wieder zu Pannen kommen kann. Außerdem ist es dann ausgeschlossen, dass in allerletzter Minute noch einige Briefwahlstimmen das Ergebnis verändern.

Die Digitalisierung ist da. Man kann sie benützen, um unter dem Vorwand, die Demokratie an sich beschützen zu wollen, einen Überwachungsstaat aufzubauen, wie Herr Haldenwang es offenbar möchte. Nach unserer Auffassung muss sich Herr Haldenwang allerdings die Frage gefallen lassen, was dann an der freiheitlich demokratischen Grundordnung eigentlich noch freiheitlich ist. Deshalb ist es konsequenter, die Digitalisierung die organisatorischen Probleme lösen zu lassen, die bislang einer breiten Teilhabe an der politischen Entscheidungsfindung im Weg standen.

Ob das eine oder das andere kommt, wird darüber entscheiden, ob die Bundesrepublik in einigen Jahren immer noch das ist, was uns die wunderbare Angela Merkel 2017 auf vielen Wahlplakaten verheißen hat: Ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.

Angela Merkel DU Plakat
Quelle: archiv.cdu.de/artikel/plakate-zur-bundestagswahl

 

Quellen:

1 Sabine Schicketanz, Christian Müller, Henri Kramer, Tausende Menschen stellen sich auf dem Alten Markt gegen Rechts – auch Kanzler

   Scholz, am 14.01.2024 auf tagesspiegel.de.

2  katholisch.de/artikel/50495-erzbischof-hesse-an-demos-gegen-rechtsextremismus-teilnehmen.

3  welt.de/politik/deutschland/article250078930/Demokratiefoerdergesetz-Kubicki-stemmt-sich-gegen-Regierungsplaene.html.

4  welt.de/politik/deutschland/article250975922/Verfassungsschutz-Chef-Haldenwang-Wehrhafte-Demokratie-oder-

Grenzueberschreitung.html.

5  wahlrecht.de/umfragen, Abruf am 11.04.2024.

6  wahlrecht.de/umfragen/landtage/sachsen.htm, Abruf 11.04.2024.

7  dort auf Seiten 128 ff.

8  de.wikipedia.org/wiki/Karl_Jaspers.

9  de.statista.com/statistik/daten/studie/2274/umfrage/entwicklung-der-wahlbeteiligung-bei-bundestagswahlen-seit-1949.

10 Thomas Petersen et al., Gespaltene Demokratie. Politische Partizipation und Demokratiezufriedenheit vor der Bundestagswahl 2013,

Gütersloh 2013.

11 Die Abgehängten, in: Der Spiegel, Nr. 38 vom 16.9.2013, S. 28f.

12 Harald Welzer, Das Ende des kleineren Übels, in: Der Spiegel, Nr. 22 vom 27.5.2013, S. 122f.

13 Gabor Steingart, Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers, München 2009, S. 181.

14 Wahlprogramm der AfD, Seite 9, Abschnitt 1.1 (online: afd.de/wp-content/uploads/2023/05/Programm_AfD_Online_.pdf).

15 diebasis-partei.de/wahlen/programm.

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